Text erschienen 2018 in : Ines Kleesattel (Hg.), Ruedi Widmer (Hg.), Diaphanes
Scripted Culture – Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung
Das App-Museum und
die Wiedererfindung der
Aura
Wären wir ganz normale Touristinnen in New York, kämen wir
früher oder später beim Metropolitan Museum of Art vorbei.
Das imposante Gebäude würde mitwandern als Hintergrunddekoration
bei einem Spaziergang durch den Central Park. Beim
Blick hinunter von einem der vielen Hochhäuser sähen wir es
durch die Baumkronen am östlichen Rand des Parks. Oder wir
wären schlicht Teil der jährlich sechs Millionen BesucherInnen.
Das Met, wie es liebevoll genannt wird, ist eines der ältesten
Museen der Stadt, gegründet 1870. Es ist in sich selbst eine New
Yorker Instanz, traditionell ein Treffpunkt der High Society, in
jüngster Zeit auch der Fashion- und Entertainment-Celebrities,
die zwecks Fundraising einmal jährlich über den einen roten
Teppich die Treppen hinauf zur Met Gala steigen. An einem Nachmittag im Mai 2016, nur wenige Tage nach
der Met Gala, steigen wir, während hinter uns Busse laufend
neue Besucher-Rudel ausspucken, die gleichen Treppen hoch.
Bevor wir in das Gebäude hineingelassen werden, wird in jede
Tasche hineingeleuchtet. Wir erhalten ein kurzes Kopfnicken
und treten ein. Der Eingangsbereich gleicht einer imposanten
Bahnhofshalle, nur gibt es hier mehr wartende als eilende Menschen. Zwischen den Stehenden verweilt auch eine 4000
Jahre alte Pharaonenstatue aus dunklem Stein. Sie ist Vorbotin
der untergegangenen Länder, Zivilisationen und Epochen, die
man in den Sälen entdecken kann.
Wir sind nicht hier als Touristinnen, sondern als Journalistinnen
und Designerinnen, die mehr über die digitalen Vermittlungsstrategien
des Museums erfahren möchten. Deshalb installieren
wir, nachdem wir den symbolischen Cent an der Kasse
– im Met zahlt jeder, was ihm der Eintritt wert ist – als erstes
die Met Museum App auf unseren Smartphones. Die App wurde
2014 im Zuge eines Rebrandings fertiggestellt. Weiß auf Rot
leuchtet auf unseren Displays das neue Logo auf, darunter steht
»Supported by Bloomberg Philanthropies« – eine Zeile, die uns
auf unserer Reise durch die New Yorker Museen und ihre Vermittlungstools
noch einige Male begegnen wird. Wir drücken
ein paar Knöpfe, gehen im Menu vor und zurück, runzeln die
Stirn. Inhalte und Navigation unterscheiden sich nicht groß von
einer Museums-Website. Auch die Orientierung auf dem nicht
interaktiven Floor-Plan ist schwierig. Statt in der Zukunft des
Museums sind wir offenbar in der Vergangenheit der mobilen
Kommunikation angekommen. Wir fragen zwei ältere Frauen,
die an ihrem kleinen mobilen Info-Desk bereit stehen, was die
App denn wirklich könne. Genauso ratlos, spenden sie uns als
Trost ein mitfühlendes Kopfnicken und geben uns als zusätzliche
Orientierungshilfe einen ausgedruckten Floor-Plan.
Eine Küche ohne Wände
»Ich finde, Apps sind lächerlich. Sie sind Ausdruck einer sehr
frühen Phase von digitalem Denken. Denn jede App ist ein
ummauerter Garten, in welchem das Museum vollständig die
Kontrolle über die Inhalte behält«, sagt András Szántó, den
wir in einem bis auf den letzten Platz besetzten, zweistöckigen
Italiener unweit des Met zum Lunch treffen. Szántó, im piekfeinen
Anzug an seinem Mineralwasser nippend, ist Publizist und Berater in den Feldern Kunst, Medien und Philanthropie –
unter anderem berät er das Met. Ohne Vorgeplänkel kommt er
auf die Frage des Museums und seinem Verhältnis zum Publikum:
»Es gibt diese tiefsitzende Idee, Museumsarbeit drehe
sich darum, dass wir dir etwas geben. Wir kochen das Essen,
du wirst es verspeisen. Frage uns nicht, wie wir es gekocht haben.
Setz dich einfach, wir machen einen schönen Tisch für
dich bereit. Alles ist wunderbar. Äußere dich nicht zum Essen,
genieß es einfach.«
Die großen Museen vermögen die Leute so immer noch
anzuziehen. »Es gibt eine Art von Supermarkt-Effekt«, sagt
Szántó. Man gehe einfach hin, ohne genau zu wissen, was man
sich dort anschauen will oder welche Ausstellung gerade aktuell
ist: »Wir haben schöne hundert Jahre hinter uns, vor allem
in Europa. Es herrschten bestimmte kulturelle Konditionen,
nach denen ein relevantes Segment des Publikums hochkulturelle
Ereignisse besuchte, auch wenn diese oftmals gar nicht
sehenswert waren.« Doch Museen könnten nicht davon ausgehen,
dass das Publikum auch weiterhin einfach kommt. Die
digitale Revolution bringe die Gewaltentrennung von Kochenden
und Essenden – oder eben Kuratorin und Museumsbesucher
– durcheinander. Die Leute wollten mitkochen, oder zumindest
mitreden. »Versteht man dies als einen Gradmesser
für das Digital-Sein – das heißt, dass man als Gatekeeper und
Kontrollinstanz einen Teil seiner Autorität aufgeben muss –
dann stehen die Museen bei Tag eins«, sagt Szántó. Es werde
ein bisschen getweetet, ein bisschen gefacebooked, ein bisschen
gesnapchattet. Ein paar Gucklöcher seien in die Wände
der Kulturküchen eingelassen worden. Gekocht werde immer
noch von den Kuratoren.
Aber sind Ausstellungen, die einem Buffet gleichkommen,
auf dem für alle etwas dabei ist, wirklich erstrebenswert?
Wünschen wir uns nicht manchmal die ExpertInnen, die uns
ein exklusives Erlebnis bereiten, das uns überrascht, vielleicht
sogar unseren erlernten Geschmack herausfordert? Andras Szántó pflichtet bei: »Wenn Sie den Leuten einfach geben würden,
was die meisten wollen, dann gäbe es nur noch Ausstellungen
über Gold, Impressionisten, Andy Warhol oder nackte
Menschen.« Die Schwierigkeit ist also, wie man Kochende und
Essende näher zueinander bringt, ohne den Brei zu verderben
und dem Ruf des Restaurants zu schaden.
Digitaler Großmut
Das Met ist zwar noch immer das Kronjuwel der New Yorker
Kulturinstitutionen, aber nicht mehr so unangefochten wie
bisher. Philippe de Montebello, Harvard-Kunsthistoriker aus
einer französischen Aristokratenfamilie, zog sich 2008 als Direktor
nach 31 Dienstjahren zurück. Thomas Campbell, vorher
ein Kurator für europäische Skulptur und Kunstgewerbe, übernahm
die Direktion. Knapp ein Jahr vorher war die Finanzkrise
ausgebrochen. Unternehmens- und Regierungsspenden gingen
zurück, der Wettbewerb unter den Museen verschärfte sich. Die
Besucherströme waren nicht mehr garantiert. Die Museumswelt
hatte kaum Antworten, wie mit der Digitalisierung umzugehen
war. Auch das Met musste sich etwas einfallen lassen.
Ein paar Tage später sind wir mit Sree Sreenivasan, dem
Chief Digital Officer des Met, verabredet. Wir sitzen in Sreenivasans
Büro, das sehr viel kompakter ist, als sein Berufstitel
und die Größe des ihm unterstellten Teams – rund 60 Leute,
sie sind alle schon gegangen – vermuten lassen würden.
Sreenivasan, ein ehemaliger Tech-Reporter und Journalismusprofessor,
wurde 2013 eingestellt. »Das Met hat jemanden
gesucht, der nicht aus der Museumswelt kommt. Und ich war
super qualifiziert, da ich absolut gar nichts wusste über die
Museumswelt«, kokettiert er. Auf dem kleinen runden Tisch,
an dem wir sitzen, steht noch ein gebrauchter Kaffeebecher –
wohl ein Überbleibsel des letzten Termins. Vor ihm steht sein
Laptop – wie er uns versichert, nur um sein Handy aufzuladen.
Sreenivasan glaubt an Storytelling: »Mein Job ist es, einer Million Menschen eine Million Geschichten zu erzählen über
unsere Milliarde von Artefakten.« Wir kennen den Satz bereits
aus Videomitschnitten seiner Vorträge. Er betont die Wichtigkeit
von Facebook, Instagram, Twitter, Pinterest, aber auch
wechat und webbo, und tippt dann doch irgendwas in seinen
Laptop. Mit wechat ziele man auf die Touristen aus China.
Was die Verbindung der Online-Erfahrung mit dem Museumserlebnis
betrifft, hat Sreenivasan Großes vor. Er nennt es den
»virtuous circle«: Der Online-Auftritt soll so gut sein, dass die
Leute persönlich kommen wollen, und das Erlebnis im Museum
so beeindruckend, dass sie ihre E-Mail-Adresse angeben,
dem Museum in den sozialen Medien folgen und immer wieder
kommen. Er spricht wie ein Welteroberer – schließlich ist das
Met ja ein Hort des Weltkulturerbes –: »Wir haben sechs Millionen
Besucher, was bedeutet, dass sieben Milliarden Personen
nicht kommen. Diese können wir erreichen. Jede Person auf der
Welt hat einen Teil ihrer Geschichte hier im Museum.« Dann
erwähnt er die überarbeitete Website und die App als wichtige
Neuerungen in seiner Amtszeit, dazu neue Technologien, mit
denen sein Team experimentiert, wie Virtual Reality oder die
Google Tilt Brush. Dennoch gäbe es unter Direktor Campbell
weniger Technologie als zuvor. Nur da, wo es Sinn mache, werde
investiert, zu schnell sei die Technologie veraltet. Da seien
andere, nichtmuseale Player durchsetzungsmächtiger: »Unsere
Konkurrenz sind nicht andere Museen, sondern Netflix.
Können wir dem Leben im Jahr 2016 noch etwas entgegenhalten?
Wir sind einfach zu beschäftigt. Das ist unser Problem.«
Nach einem hastigen Blick auf seine Uhr springt er auf,
lässt uns gerade genügend Zeit, um unsere Sachen in die
Taschen
zu stopfen, und schon sind wir auf dem Weg nach
draußen. Wir eilen durch die Räume des Museums, das
zwischenzeitlich
geschlossen hat. »Wieso machen Sie nicht
ein Selfie?«, sagt Sreenivasan, während er kurz seinen Schritt
verlangsamt. Wir winken ab und schießen stattdessen ein
Bild des nach einer Renovation in 2007 eröffneten Leon Levy and Shelby White Court, wo eine Gruppe römischer und hellenistischer
Statuen das durch die vollständig verglaste Decke
eindringende, sanfte Abendlicht zu genießen scheint.
Nur einen Monat später wird Sreenivasan seine S
telle im
Zuge weitgreifender Sparmaßnahmen kündigen. Zeitungsberichte
vom Frühling 2016 sprechen von einem Defizit von
10 Millionen – bei einem Gesamtbudget von rund 300 Millionen
– und vom Risiko, dass dieses bis zu 40 Millionen US -Dollar
anwachsen könnte.1 Weitere acht Monate später, im Februar
2017, wird die New York Times auf ihrer Frontseite titeln: »Is
the Met Museum ›a Great Institution in Decline‹?«.2 Im selben
Monat wird Thomas Campbell von seinem Amt als Direktor
zurücktreten.
Nochmals fünf Monate später, im Juli 2017, blickt G
eorge
Goldner, der von 1993 bis zu seiner Pensionierung im Januar
2015 als Kurator im Department für Zeichnungen und Drucke
arbeitete und von dem das Zitat im Times-Titel stammt, am Telefon
auf die Amtszeit von Campbell zurück. Er zeichnet das
Bild eines schleichenden Niedergangs. Der Ausbau des Digitaldepartments
und der digitalen Kommunikation sei nur eine der
Maßnahmen gewesen, die das Met in finanzielle Schwierigkeiten
brachten. Sehr viel einschneidender sei die Entscheidung
gewesen, in zeitgenössische Kunst zu investieren. Er habe das
nie verstanden: »Das Met hat siebzehn Abteilungen, wovon
sechzehn in New York und Amerika einzigartig sind, während
zeitgenössische Kunst überall ist.« Unter Thomas Campbell sei
die Zahl der Ausstellungen verkleinert, der Umfang der Ausstellungskataloge
und Budgets für Recherchereisen gekürzt,
das Lohnniveau eingefroren worden. Angesprochen ist damit
namentlich der Stellenwert der KuratorInnen
und der Wissenschaftlichkeit,
die Philippe de Montebello einst als »den Herzschlag
dieses Ortes« bezeichnet hatte.3
Goldner versteht zwar, dass ein solches Museum den
Herausforderungen der Digitalisierung begegnen muss, doch
seiner Meinung nach wurde zu viel zu schnell gemacht. Digitale Kommunikation sei von ihrem Wesen her oberflächlicher
als andere Arten der Kommunikation. Schnell geschriebene
Blogs oder die Instant-Bild-Kultur von Facebook, Instagram
und Co. höhlten das aus, was das Met im Grunde ausmache:
Wissenschaftlichkeit, Gründlichkeit, Nachhaltigkeit, Seriosität.
In dieser durch quotenorientiertes Marketing bedingten
Schwächung der traditionellen Qualitäten der Institution sieht
Goldner einen entscheidenden Kalkulationsfehler, der auch
die Basis der Finanzierung des Met – nämlich die Donatorinnengelder
– tangiert. Goldner zieht einen Vergleich zwischen
Museum und Spital: Dem Letzeren gebe man Geld aus Mitgefühl.
Ein Museum hingegen unterstütze man, weil man dessen
Arbeit, Expertise und Kulturleistung einzigartig findet. Würde
hingegen das Gefühl genährt, dass die Meinung jeder Person
gleich viel zähle, dann würde Expertise zweitranging. Sich
selbst als Beispiel nehmend, sagt er: »Meine Meinung zu Zeichnungen
bedeutet etwas. Meine Meinung zu Physik nicht.«
Computer und KuratorInnen
Zurück im Central Park im Mai 2016. Auf der gegenüberliegenden
Seite des Met, westlich angrenzend an den Park, liegt das
American Museum of Natural History. Auf einer vier Blocks
umfangenden Grundfläche und auf fünf Stockwerken wird
hier eine Zeitreise von der Steinzeit bis ins Weltraumzeitalter
angeboten. Über 30 Millionen Objekte und Exponate hält das
Museum für seine Besucher und die Wissenschaft bereit. Es
verfügt gar über ein Imax-Kino und eine eigene U-Bahn-Station.
Matt Tarr, Director and Digital Architect, hat uns zum
Personaleingang
des Museums bestellt. Wie bei der Einreise
am Flughafen werden wir am Empfang fotografiert und befragt,
nur der Fingerabdruck ist nicht erforderlich. Tarr steuert
beschwingt um die Ecke. Er ist klein, muskulös, tätowiert. Er
schüttelt uns mit kräftigem Druck die Hand und begrüßt uns
direkt mit Namen. Dass er auf seinem iPhone unsere Passfotos sehen kann, gehört zu den technischen Extras, die ihm seine
tägliche Arbeit erleichtern und ihn – so lässt sein breites Grinsen
vermuten – zugleich bespaßen.
Tarr führt uns durch die schummrigen Gänge, in denen
nur die berühmten Dioramen hell ausgeleuchtet sind. Er öffnet
eine Tür, die wir als Besucherinnen wohl übersehen hätten,
und führt uns zu seinem Büro. Seiner Abstellkammer:
Das Licht ist auch hier drinnen schummrig, die Luft steht fast.
Auf Tarrs Tisch herrscht Chaos. Bildschirme, Shampoo, eine
Virtual-Reality-Brille, Teebeutel, ein Foto von sich und seiner
Frau beim Surfen. Auf seiner Apple Watch blitzen immer wieder
Nachrichten auf. Seine Leidenschaft für Technologie trifft
auf das Beharrungsvermögen eines Museums, das als solches
ein Fossil ist. »Das Museum hat eine 125-jährige Mission. Unser
Job ist es, diese stets im Kopf zu behalten«, sagt er. »Wenn
wir uns mit einem neuen Prozess oder Produkt auseinandersetzen,
müssen wir immer abwägen, inwiefern eine Neuerung
dabei hilft, unsere Mission noch besser zu erfüllen.« Die Mission
stammt vom Gründer Dr. Albert S. Bickmore, der 1869 mit
dem Programm angetreten war, das Wissen über menschliche
Kulturen, die Natur und das Universum durch Forschung, Bildung
und Vermittlung voranzutreiben.
Hinter unseren Rücken hängt ein Poster mit einem
Zitat
des amerikanischen Architekten und Systemtheoretikers
Richard Buckminster Fuller: »If success or failure of this
planet and of human beings depended on how I am and what I
do... HOW WOUL D I BE? WHAT WOUL D I DO?« Die auf einem
Whiteboard gleich daneben aufnotierten Tasks – Visible
Keyword, Apple Indoor Maps, Dinos II – sind offensichtlich pragmatischer
gemeint. In einem naturhistorischen Museum, wo
eine Mücke zum Elefanten und Ausstellung über Dinosaurier
zu
einer Lektion über Evolution und Klimawandel werden kann,
sind Objekte Transportmittel für Geschichten. Auf der einen
Seite gibt es die KuratorInnen als WissenschaftlerInnen und
ExpertInnen für das Objekt; auf der anderen die SpezialistInnen für das Storytelling und den Einsatz neuer Technologien.
Der Status der Kuratorin-Expertin scheint in einem solchen
Verständnis sicher zu sein vor dem Machtgewinn des
Publikums in der Demokratisierung. Wie aber sieht es aus mit
der Gefährdung durch den Machtgewinn der Algorithmen in
der Automatisierung? Der auf Tarrs Poster zitierte Buckminster
Fuller sagte 1962 voraus, dass die Maschine den Menschen
nicht nur in Sachen Handarbeit, sondern auch in vielen Formen
der Hirnarbeit ersetzen werde. Was den Menschen von
der Maschine unterscheide, sei das Knüpfen von Verbindungen,
das Neuarrangieren von Wissen, das Stellen origineller
Fragen, die »Integrationsfunktion« – wie Buckminster Fuller
diese Wesenszüge zusammenfasst. Sollten die Spezialisten
irgendwann überflüssig werden, so müssten die Menschen
wieder zu »Komprehensivisten« werden, deren Hauptkompetenz
eben im Verbinden verschiedenster Wissensbestände
und Wissensformen liegt. Genau diese Kompetenz, so unser
Eindruck am Ende des Gesprächs mit Tarr, sollte im Zentrum
dessen stehen, was Museen in der Digitalisierung ausmacht.4
Vom Blauwal zu Mac and Cheese
Tarr bedankt sich herzlich und empfiehlt auch gleich, die erst
kürzlich erneuerte Explorer App im Museum zu testen. Da
stehen wir dann also mitten in einem der endlosen Korridore
des Museums und fühlen uns wie Krill im Blauwal. Für ein
exquisites lebensgroßes Modell der letzteren Spezies ist dieses
Museum berühmt. Wir laden die App auf unsere Smartphones
und geben unser Topinteresse ein: den Blauwal. Zur Lancierung
der neuen Version hat man Anfang des Jahres im ganzen
Haus 700 sogenannte iBeacons installiert – kleine Sender, die
in fixen Zeitintervallen Signale senden. Kommt der Besucher
mit seinem Smartphone und der installierten App in seine
Reichweite, kann das iBeacon seinen Standort ermitteln. Die
Technologie, ursprünglich für den Detailhandel entwickelt, ist in Museen sehr beliebt, denn diese altehrwürdigen Häuser haben
zwar unterdessen alle WiFi installiert, aber für Geolocation-
Technologien sind ihre Mauern oft zu dick. Tarr versicherte
uns vor unserem Rundgang, dass die Beacons weder Nutzerdaten
sammeln noch speichern würden. Sie seien einzig dazu
da, einem den Museumsbesuch zu erleichtern.
Fast im Sekundentakt poppen neue Nachrichten auf unseren
Smartphones auf. »Möchtest du noch den Leoparden
sehen? Bist du hungrig? Wusstest du…?« »Supported Serendipity
« nannte Tarr diesen Vorgang. Es fühlt sich eher nach
»Disturbed Directing« an. Denn über den Blauwal spricht das
Smartphone nicht.
Es ist schwierig, an die Dioramen heranzukommen. L
eute
stehen wie Schafe herum und blockieren den Weg, manche
von ihnen starren verwirrt auf die Displays ihrer Smartphones.
Manchmal drehen sie sich und strecken dabei das Smartphone
wie einen Metalldetektor aus, um sich zu lokalisieren – so
wie es auch wir immer wieder tun. Halb amüsiert, halb ernsthaft
besorgt stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn Virtual oder
Augmented Reality in diesem Museum Einzug hielte. Tarrs
Team sucht vielleicht auch darauf eine Antwort, wenn es in
einem aktuellen Projekt die Möglichkeit untersucht, wie man
Besucherströme mittels Wärmetechnologie leiten könnte. Das
Risiko dabei wäre, dass dann noch mehr Nachrichten aufpoppen
und einem sagen, was man wollen könnte. Die Chance:
Die Leute könnten sich verteilen und sich auf das Wesentliche
konzentrieren. Das Betrachten und Entdecken von Exponaten
könnte sich so, zusammen mit dem Knüpfen von Gedankenverbindungen,
im Gang durch das Museum intuitiv ergeben.
Für heute aber geben wir auf. Wir deinstallieren die App und
lassen uns von nun an einfach durch die Räume treiben. Bevor
wird das Museum durch den unterirdischen Ausgang, der direkt
zur U-Bahn-Station führt, verlassen, machen wir Halt im
Food-Court und stärken uns mit Mac and Cheese und Cola.
Jenseits der Museumspforten wartet die Stadt. Wäre eine weitere Idee von Matt Tarr bereits umgesetzt, würde im Hotel
eine E-Mail auf uns warten und uns sagen: »Leider hast du den
Wal heute verpasst. Komm doch morgen wieder. Hier ist ein
50%-Discount-Gutschein.«
Archivierte Gegenwart
An der Ecke 5th Avenue und 91st Street, ebenfalls am Rand des
Central Park, liegt unsere dritte Station, das Cooper Hewitt
Smithsonian Design Museum. Ein stattliches Townhouse im
georgianischen Baustil, umrahmt von einer malerischen Grünanlage.
Erbaut zwischen 1899 und 1903 für den reichsten Industriellen
und Philanthropen seiner Zeit, Andrew Carnegie,
mit 64 Zimmern und den neuesten damaligen technischen
Vorzügen: Lift, Zentralheizung, Air-Conditioning. Erst 1967,
als die Sammlung an das staatliche Smithsonian Institute überging,
wurde das Museum an diesen Standort verlegt. Gegründet
wurde es 70 Jahre vorher als Teil der Cooper Union, einer
Bildungsstätte, die für die Förderung von Wissenschaft und
Kunst stand. Die Gründerinnen Amy, Eleanor und Sarah Hewitt
– Enkelinnen des Industriellen Peter Cooper – hatten die
Vision eines modernen Museums. Inspiriert durch frühe industrielle
Weltausstellungen und Kunsthandwerksmuseen in England
und Frankreich, sollte das Haus der Bildung von Arbeitern
und KunsthandwerkerInnen dienen und – etwa für Kunststudenten
– ein Ort des Arbeitens sein. Der Eintritt war wie die
Studiengebühren umsonst. Eleanor Hewitt erklärt in einem
1919 entstandenen Essay: »[…] die Objekte sind zur Nutzung
da, um danach zu arbeiten, und, falls erwünscht, um diese von
ihrer Position zu entfernen und in jedes Licht zu platzieren.«5
Es ist kurz vor zehn Uhr morgens, und es regnet ganz
leicht. Unter einem kleinen Vordach wartet eine Gruppe Kids,
vermutlich aus der gut situierten Nachbarschaft, vermutlich
mit ihren Nannys, auf den Einlass ins Museum. Um Punkt
zehn Uhr gehen die Tore wie von Zauberhand auf. Wir geben den wartenden Kindern einen kleinen Vorsprung und betreten
das Museum nach ihnen. In einer Ecke der Eingangshalle steht
schon der erste Touchscreen, der aussieht wie ein Billardtisch.
Die Kids stürzen sich darauf und versuchen mit ihren kleinen
Fingern, die Animation zum Laufen zu bringen. Eine Aufsichtsperson
des Museums lässt es geduldig geschehen.
Derweil stehen die Nannys am hochglänzenden, weißen,
raumschiffähnlichen Tresen. Zwei junge Frauen verkaufen
Tagestickets.
Dazu gibt es einen übergroßen Stift und einen
persönlichen Code, über den man nachträglich den Museumsbesuch
online abrufen kann. »This is your personal, interactive
pen. It allows you to be a creator.« Die Nannys vor uns finden
das »awesome«. Mit Stift und Ticket in der Hand flüchten
wir vor den Kids über die reich verzierte Holztreppe hinauf in
den ersten Stock. Wir schauen uns die Ausstellung rückwärts
an und beginnen mit dem Raum, dessen Ausstellungsstücke
gemäß der Website des Museums als Publikumslieblinge gelten.
Zu sehen gibt es darin Architekturmodelle von Treppen.
Es sind auch schon andere Besucher da, doch niemand verweilt
hier lange. Alle zücken entzückt den Stift und drücken
dessen abgeflachtes Ende auf eine Markierung neben der Objektbeschriftung.
Sie lösen damit eine Art Scan aus und speichern
die Informationen des Artefakts, auf welches sie den
Stift richten. Die meisten wiederholen diesen Vorgang bei jedem
einzelnen Treppenmodell. Nur kurz werden die Artefakte
in Augenschein genommen. Dann lassen sie, ohne einen Blick
zurückzuwerfen, die Treppen Treppen sein.
Der Stift erinnert in paradoxer Weise an die Vergangenheit
des Museums, als KunsthandwerkerInnen hier mit Pinsel oder
Bleistift die Ausstellungsobjekte abzeichneten, um so die »Kopie
« eines Designs oder Musters mit nach Hause oder in ihre
Werkstatt zu nehmen. Nur dass diese Methode dafür geeignet
war, die Objekte wirklich zu studieren, während der Stift des
Cooper Hewitt Design Museum etwas zwischen Spielzeug und
Supermarkt-Handscanner ist. Wir sind im »Immersion Room« angekommen, wo die anderen Besucher ihre Tour begonnen
haben. Hier kann man durch Bearbeiten eines großen Touchscreens
wie ein Designer eine Tapete kreieren und kolorieren.
Eine, wie wir, leicht gekränkt in unserem Berufsstolz,
finden,
ziemlich vereinfachte Darstellung der Design-
Profession.
Wie zielführend ist das Anhäufen von Daten zu Objekten,
die an uns ebenso schnell vorbeiziehen wie wir an ihnen?
Schon der bloße Gedanke daran erschöpft uns. Auch wir haben
die Werkinformationen wie Ostereier gesammelt. Unsere
Konzentration galt den Strichcodes. Nach dem Motto »save it
for later« füllten wir unser Körbchen und vertagten das Hiersein
auf später. Unsere Wahrnehmung delegierten wir, wie
auch im Alltag, an das Gerät. Weil wir es kaum aushalten, uns
ohne Hinzuziehung eines anderen Mediums auf etwas zu konzentrieren,
sind wir für das, was im Museum möglich wäre,
nicht mehr geeignet. Die Frage, die sich daraus ergibt, hat etwas
Provokantes: Was wäre ein Museum, welches die Qualität
der Aufmerksamkeit ins Zentrum seines Bemühens stellt?
Philantropisches Data-Mining
Als Bill Moggridge, Erfinder des ersten Laptop-Computers,
Mitbegründer des weltweit tätigen Designbüros IDEO und
Interaction Design-Pionier, 2010 zum Direktor des Cooper
Hewitt
Smithsonian Design Museum ernannt wurde, gab es
auch erstaunte Reaktionen. Es war die Zeit, als das Museum
wegen Renovationsarbeiten drei Jahre lang geschlossen blieb.
Moggridge schwebte eine Art Smart Museum vor, ein großes,
vernetztes Geflecht, einem Gehirn ähnlich. Eine Vernetzung
von materiellen Artefakten, Sensoren, immaterieller Datenverarbeitung
und algorithmischer Steuerung. Ob das Ende
2014 wiedereröffnete Museum dieser Vision bereits gerecht
wird, ist zu bezweifeln; dass sein Team den Modernisierungsprozess
stetig vorantreibt, ist dennoch nicht zu übersehen.
Nach unserem Museumsbesuch, es ist kurz vor Mittag, treffen wir Mica Walter, den Director of Digital & Emerging
Media, der zusammen mit Moggridge im Cooper Hewitt anfing,
im Museumscafé. Walter trägt Jeans, Trekkingschuhe, ein
T-Shirt und eine Apple Watch. Er sitzt etwas gebückt, spricht
nuschelnd, sein Blick zielt immer leicht an uns vorbei. Wir
wollen von ihm wissen, was mit unseren gesammelten Daten
passiert. »Wir haben den Stift nicht entwickelt, um an Besucherdaten
zu kommen«, sagt er. »Im Gegenteil. Wir haben ihn
absichtlich so entworfen, dass der Besucher anonym bleibt.
Erst wenn man nach dem Besuch online seine gespeicherten
Ausstellungsobjekte anschaut, kann man freiwillig ein Profil
erstellen.« Walter versteht das Digitalteam des Museums als
eine Art ethische Kontrollstelle, wenn es um das Sammeln
und Benutzen von Daten geht: »Daten sind extrem mächtig.
Ich kann ein Diagramm erstellen und es dann zu einer Besprechung
mitbringen, und jeder wird eine Stunde darüber diskutieren
und dann vielleicht eine folgenschwere Entscheidung
treffen. Wir stehen in der Verantwortung, extrem sensibel mit
den Daten vorzugehen, sonst wird es gefährlich.«
Es geht also, wenn man Walter Glauben schenken will,
nicht um Data-Mining, sondern um Philanthropie. Wobei
Glauben heißt, auf eine gute Absicht zu vertrauen: »Technisch
machbar ist vieles, mehr als man denkt. Es kommt auf die Motivation
an, die dahinter steht. Wenn Sie das Museum als Business
verstehen, dann ist die schiefe Bahn nicht weit. Wenn
es Ihnen darum geht, dem Besucher eine tolle Erfahrung zu
ermöglichen, können Sie natürlich immer noch auf die schiefe
Bahn geraten, aber immerhin in guter Absicht.« Die beiden
Motivationen sind eng miteinander verknüpft: Ein tolles Besuchererlebnis
führt zu mehr Besuchern und schließlich zu einem
wirtschaftlich erfolgreichen Museum. »Wir sind auf die breite
Masse angewiesen, um zu überleben«, räumt Walter ein. Die
Upper East Sider seien dem Cooper Hewitt als Stammkunden
gewiss, doch auch Millennials, Designstudenten, Handwerkerinnen
und Touristen sollten das Museum mehr besuchen. Angesprochen fühlen soll sich nicht länger bloß eine Elite, sondern
die Gesellschaftsschicht, die bereits die Hewitt-Schwestern
als Zielpublikum ins Auge gefasst hatten: das Proletariat,
oder in der heutigen Sprachregelung: die Bildungsfernen.
Technologie wird eingesetzt, um die Zielgruppe zu erweitern.
In alledem zeigt sich die Gratwanderung, welche die Digitalisierung
für Museen bedeutet, und das damit verbundene
Absturzrisiko. Zum Umstand, dass man im Kontext ökonomischer
Legitimierung den Erfolg zunehmend messen muss,
kommt der Umstand, dass man ihn durch das Hantieren mit
Daten zunehmend messen kann. Dieses Hantieren mit Daten
von zwei Seiten – Veranstalter und Publikum – kann das Museums-
Erleben, wie wir es kannten, perfektionieren, verwandeln,
aber auch zerstören. Wobei ungeklärt ist, wie man sich dieses
Erleben im besseren Fall vorstellen soll: Haben nicht in den
letzten Jahrzehnten Supermarkt- und Ladendesigner in Prestigeprojekten
versucht, das Auratische mit dem Konsumismus,
das Sakrale mit der Zirkulation der Masse, die Einzigartigkeit
des Ereignisses mit dem Rauschen des Alltags zu verbinden?
Mit der fortschreitenden digitalen Entwicklung, den damit verbundenen
Aufmerksamkeits- und Nutzergewohnheiten und
der Frage der Demokratisierung der Kuration wird der Spagat
zwischen inklusiven und exklusiven Modellen der Rezeption,
in dem sich Museen schon länger üben, noch anspruchsvoller.
Der Wert von Museen
Das Café, in das wir nach dem Lunch mit András Szántó übergesiedelt
sind, um das Gespräch über die Demokratisierung
im Museum noch einmal in Ruhe zu führen, ist klein, das Interieur
weiß und asketisch. »Hier gibt es den besten Kuchen in
ganz New York«, sagt er und zeigt auf ein kleines, rechteckiges
Stück Feingebäck. Der hundertlagige Kuchen, den eine Japanerin
nach traditionellem Rezept hier backt, sei legendär und er bereit, dafür zu sterben. Wir sitzen Stuhl an Stuhl in einer
Ecke und teilen uns zu dritt zwei Kuchenstücke.
Erneut ist es die Analogie zwischen Essen und Museum,
die seine Gedanken leitet. Hier wie dort gilt: Das Langsame, das
Lokale, das Einzigartige ist ihm das Wertvolle. »Generell sind
die Dinge die man messen kann, immer die belanglosen. Die
Dinge, die wirklich wichtig und komplex sind, sind am schwierigsten
einzufangen.« Ein Museum mit hohen Besucherzahlen
sei nicht per se wertvoller als eines mit niedrigen. Er gibt zu,
dass für ihn persönlich die wertvollen Museen oftmals die kleineren
seien. Er erlebe die Kunst darin tiefgründiger, spiritueller
– oder welches Wort man auch immer verwenden wolle.
Ähnlich wie für George Goldner, der den Unterschied zwischen
Spital und Museum hervorhob, ist für Szántó eine Haltung,
welche das Museum als Mittel zum Zweck der Lösung gesellschaftlicher
Probleme sieht, nicht zielführend: »Sobald wir
sagen, unterstützt uns, weil wir die Bildung verbessern und die
Kriminalität senken helfen, setzen wir uns in eine hoffnungslos
schwache Position. Denn es gibt sehr viel einfachere Wege, das
zu tun, als Kultur zu finanzieren und dann auf die indirekten
Auswirkungen zu warten.« Was er beschreibt, ist der Spagat:
»Auf der einen Seite wollen wir, dass die Leute uns glauben,
wenn wir behaupten, dass Kunst für alle interessant ist und
dass alle zugelassen sind, Kunst zu bewerten. Auf der anderen
Seite steht der Elitismus. Wir haben die letzten hundert Jahre
damit verbracht, Kunst zu einer unglaublich esoterischen Sache
zu machen.« Dabei seien Kunst und Kultur eigentlich das
Inklusivste, was man sich vorstellen kann. Szántó erinnert an
die vielen antiken Skulpturen, Töpfe, Kleider, Gemälde, die
wir im Met im Vorbeigehen gesehen haben. Seit Anbeginn der
Menschheit gebe es Formen von Malerei. Bereits in der Antike
habe es museale Praktiken gegeben. »Ich denke, wir haben in
den letzten Jahren die falschen Leute in die Museen geholt. Wir
haben auf die Ökonomen gesetzt«, meint Szántó. »Wir hätten
zu den Psychologen und Neurowissenschaftlern
gehen sollen.« Spinnen wir diesen Faden weiter. Was würde es heißen,
wenn Museen auf Neurologen setzten und diese gar noch Mittel
wie künstliche Intelligenz einsetzen würden? Diese neue
Spezies von Experten wüsste darüber Bescheid, was in uns
vorgeht, wenn wir Kunst- und Kulturobjekte rezipieren. Sie
könnten einerseits gegenüber den Kulturpessimisten aus Politik,
Wirtschaft und der breiten Bevölkerung wissenschaftlich
erklären, dass und warum das Museumserlebnis relevant ist.
Andererseits könnten sie auch das Museumserlebnis selbst
im Dialog mit den Museumsfachleuten optimieren und verstärken,
und so dafür sorgen, dass die von Buckminster Fuller
hochgehaltene »Integrationsfunktion« noch wirkungsvoller
angeregt wird. Dass wir beim Anblick eines Sauriers an den
Klimawandel denken. Dass wir Miniaturtreppen, die über die
Ingenuität menschlicher Entwurfsarbeit sprechen, nicht einfach
mit dem digitalen Finger wegklicken. Oder dass wir beim
Genuss eines japanischen Kuchens über die soziale und neurologische
Wirkungskraft ästhetischer Erfahrungen sinnieren.
Herzhaftes Ende
Wir schließen unsere Woche in New York mit einem Besuch
der erst eben eröffneten Ausstellung »Manus X Machina«
im Met ab. Im Zentrum der Ausstellung glitzert ein Brautkleid
von Chanel mit einer drei Meter langen, goldbestickten
Schleppe. Es wird eigens von einem Bodyguard bewacht. Die
Leute starren es ehrfürchtig an, einige versuchen es mit dem
Handy zu fotografieren, müssen aber einsehen, dass selbst die
hochauflösende Kamera des Smartphones nicht in der Lage
ist, das Entscheidende aufzunehmen: die Aura dieses Kleides.
Die Szenografie ist auf ein Minimum beschränkt: weiße,
spiralförmig angeordnete Gänge, gesäumt von faszinierenden
Kleidern, die auf schlichten Büsten präsentiert werden. Die
Kleider sind designer- und dekadenübergreifend nach Themen
wie »Featherwork«, »Embroidery« oder »Artificial Flowers
« gruppiert. Klaviermusik trägt einen durch die Ausstellung.
Ohne die Begleittexte lesen zu müssen, verstehen wir die Geschichte.
Erzählt wird die Entwicklung einer Disziplin von einer
manuell operierenden Handwerkskunst über eine immer
stärker mechanisierte Industrie bis zu einer algorithmisch
unterstützten Hightech-Kunstart. Die Ausstellung zeigt ganz
ohne Einsatz digitaler Mittel, dass Schönheit und wirkungsvolle
ästhetische Erfahrung mit technologischen Entwicklungen
einhergehen kann – wenn man diese wirklich annimmt, sie für
sich nutzt und sich ihnen mit viel Feingefühl hingibt.
Vor lauter Staunen ob dieser prächtigen Kleider, dieser subtilen,
auf den Punkt gebrachten Szenografie und Narration
vergessen wir unser Smartphone gänzlich. Das ist es, was das
Erleben im Museum im Kern ausmacht: Eintauchen in eine
Welt, die ein Expertenteam aus Kuratoren, Szenografen, und
Technikern für einen gebaut hat. Und darin so tief versinken,
dass man die Welt da draußen für einige Stunden komplett vergisst.
Mit neuer Energie aufgeladen werden, statt Energie im
eilenden Gang durch eine Exponat-Kaskade zu verbrennen.
Dann frisch beseelt wieder draußen stehen, das Smartphone
hervorgraben, mehr zum Thema der Ausstellung recherchieren,
eine E-Mail zu versenden mit dem Betreff: Must see!
Anmerkungen
1. Vgl. Robin Pogrebin: »Metropolitan Museum of Art Plans Job Cuts and Restructuring
«, in: The New York Times, 21.04.2016, https://nyti.ms/1pl6vOf
(aufgerufen: 16.12.2017).
2. Robin Pogrebin: »Is the Met Museum ›a Great Institution in Decline‹?«,
in: The New York Times, 4.2.2017, https://nyti.ms/2kAi71R (aufgerufen:
16.12.2017).
3. O.A.: »The Importance of Being Elitist«, in: The New Yorker, 24.11.1997,
https://www.newyorker.com/magazine/1997/11/24/the-importance-
of-being-elitist (aufgerufen: 16.12.2017).
4. Vgl. Richard Buckminster Fuller: Die Aussichten der Menschheit, 1965–1985,
Bd. 1: Projekte und Modelle, Frankfurt a.M. 1968, S. 16–21.
5. Eleanor G. Hewitt: The Making of Modern Museum, Written for the Wednesday
Afternoon Club, 1919, https://archive.org/details/makingofmodernmu-
00hewi (aufgerufen: 16.12.2017), S. 19.